Ersteres war die Frage einer Arbeitskollegin, der ich vom Aikido und meinem Dojo erzählte, Zweiteres meine Antwort. Was antwortet man auf diese Frage? In vielen Geschichten über buddhistische Mönche, die mit der Frage nach Erleuchtung („Was ist Erleuchtung?“, „Bist du erleuchtet?“ usw.) konfrontiert werden, ziehen diese eine Schlappe vom Fuss und ohrfeigen damit ihr Gegenüber. Allerhand andere irrationale Reaktionen dieser Art finden sich in Erzählungen und Literatur. Schlussendlich gibt es auf das, was nicht beschrieben werden kann, ohne es zu verfälschen, keine Antwort. Ausser, die fragende Person in ihren Grundfesten des Rationalen zu erschüttern. Obwohl es mir am großen Zeh kratzte, schien es allerdings unangebracht, im Mittagspausenplausch meinen Schuh auszuziehen und ihn – und sei es noch so mild und kollegial zaghaft – besagter Kollegin über das Gesicht zu ziehen. Was also antworten? „Ähhh...“.
Ein „Ja“ wäre so falsch gewesen wie ein „Nein“. Denn beide Antworten hätten eben nur wieder den sich nach rationalen Antworten sehnenden Verstand darin befriedigt, beschäftigt zu werden, zu hinterfragen, zu kategorisieren, zu bewerten, zu urteilen, zu verstehen oder nicht zu verstehen, zu glauben oder nicht zu glauben und so weiter. Ganz zu schweigen von allen Erklärungen, die natürlich hinter einem „Ja“ oder einem „Nein“ vom Gegenüber erwartet werden und somit gegeben werden müssten. Ein „Ja“ erweckt zudem den Verdacht der Verblendung, Einbildung und Vermessenheit (zurecht!). Und mit einem „Nein“ übt man sich in Bescheidenheit, die vielleicht sympathischer daherkommen mag als ein möglicherweise arrogant-wirkendes „Ja“. Doch ein „Nein, ich bin nicht erleuchtet“ stünde genauso auf den drei Säulen Verblendung, Einbildung und Vermessenheit. Denn das ist ebenfalls ein Storytelling, mit dem man vor allem sich selbst eine Geschichte erzählt, die nicht stimmt und mit der wir uns kleiner machen, als wir sind. Und mit der wir uns ein Leben lang einreden, nicht gut genug zu sein und weiter üben zu müssen.
Einmal war ich mit meinem Lehrer und zwei Aikido-Freunden auf einem Jiu-Jitsu-Lehrgang für Polizisten in Bayern. Dort waren Hunderte von Jiu-Jitsu-Kas am jährlichen Auffrischen ihrer Techniken für ihren Job – und mein Lehrer war als Gast für einen Aikido-Input eingeladen. Ich kann mich nicht mehr an die Frage von einem meiner Freunde erinnern, die er unserem Lehrer beim Frühstück in der großen Halle stellte, aber dafür an dessen Antwort: „Sieh dich um“, meinte mein Lehrer und deutete auf die Hundertschaften von frühstückenden Polizistinnen und Polizisten. „Alle in diesem Raum sind erleuchtete Meister, die sich selbst im Weg stehen.“
Demnach bin ich genauso ein erleuchteter Meister wie die Arbeitskollegin, die mir die besagte Frage stellte – so wie wir alle ebendas sind: Meisterinnen und Meister, denen das paradoxe Kunststück gelingt, sich selbst im Wege zu stehen. Meine Existenz ist pure Erleuchtung, die ich durch die Brille des Verstandes in Nebel hülle. Weder das eine noch das andere Storytelling („Ja, ich bin erleuchtet“ bzw. „Nein, ich bin nicht erleuchtet“) stimmt, denn beide führen in die Ver(w)irrung eines in der Sprache hin und her mäandernden Diskurses.
Ich kann versuchen, in Worte zu fassen, wie es sich anfühlt, sich frei von Rationalität (d. h. nicht gesteuert vom Verstand) zu bewegen. Es ist ein Zustand eines „geistigen“ Raumes, der nicht strukturiert und eingerahmt wird von individueller Geschichte. Er ist eine grenzenlose Weite. Gedanken und Gefühle lösen sich in ihr auf, denn sie ist schlichtweg zu groß dafür. Es ist wie beim Zerplatzen einer Seifenblase: Die Luft, die gerade noch in sie eingeschlossen war, ist plötzlich eins mit der Welt. In diesem Zustand bin ich Sehen, Fühlen, Hören, Bewegen. Es ist pure Wahrnehmung. Ist das Erleuchtung? Ich weiß es nicht. Möglicherweise … in jedem Fall ist es klare Freude.